Krebskranke Kinder im Stich gelassen
Weil nur wenige Kinder an Tumoren leiden, zeigt die Pharma an diesem Bereich kaum Interesse.
In der Schweiz erkranken jährlich rund 250 Kinder an Krebs – Tendenz steigend. Jedes vierte Kind stirbt an der Krankheit. Doch kaum ein Pharmakonzern investiert in die Kinderkrebsforschung. Der Grund: das geringe Marktpotenzial und die entsprechend kleinen Profitaussichten, wie Spezialisten sagen.
Selbst für erfahrene Ärzte ist es schwer zu ertragen, wenn sie mit neuen Fällen konfrontiert werden. So wurden bei Felix Niggli, dem Abteilungsleiter der Onkologie am Kinderspital Zürich, kürzlich innert nur einer Woche vier Kinder mit einem Hirntumor eingeliefert. «Das sind immer besonders tragische Momente», sagt er. Denn Hirntumore gehören zu den schwer behandelbaren Erkrankungen. Was folgt, ist wie ein böser Traum: Spital, Chemotherapie, die Haare fallen aus, immer wieder werden Spritzen gesetzt. Die Behandlung erstreckt sich über Jahre. Das Kind und die Eltern sind körperlich und psychisch extrem belastet.
Krebserkrankungen sind nach Unfällen noch immer die zweithäufigste Todesursache im Kindesalter. Nach wie vor gibt es aber kaum Medikamente, die für Kinderkrebsarten wirklich zugelassen sind. Und dies, obwohl gewisse Erkrankungen bei Kindern gehäuft vorkommen, beispielsweise etwa akute Leukämien oder Gehirntumore. «Die Pharmaindustrie hat wenig Interesse an der Kinderkrebsforschung», bemängelt Felix Niggli. Für die Branche ist der Markt zu klein, und zudem wirken bestimmte Erwachsenenmittel auch bei Kindern. Wie Niggli bestätigt auch Roland Ammann, Leitender Arzt der Kinderonkologie am Inselspital in Bern, dass sich die Pharmaindustrie nicht um den Bereich bemühe, weil er sich für die Branche nicht rechne.
Damit konfrontiert, widerspricht Roche, einer der grössten Hersteller von Krebsmedikamenten. So habe die Forschung für Kinder mit Krebserkrankung für den Konzern «einen hohen Stellenwert». Derzeit würden in fünf, teilweise bereits abgeschlossenen Studien die Auswirkungen der hauseigenen Krebsmittel bei Kindern untersucht. Der Konzern sagt, dass es teilweise schwierig sei, eine genügend grosse Anzahl Patienten für pädiatrische Studien zu rekrutieren. Der Pharmakonzern Novartis verweist auf eine lange Liste von Medikamenten.
Tatsächlich ist die Krebsrate bei Erwachsenen deutlich höher als bei Kindern und das Geschäft lukrativer für die Pharma. Laut Krebsliga Schweiz erkranken allein in der Schweiz jährlich 37 000 Menschen an Krebs, inklusive Kinder und Jugendliche. Laut dem Krankenversicherer Helsana stiegen die Ausgaben für Onkologika zwischen 2007 und 2012 hierzulande um 111 Prozent auf 448 Millionen Franken. Kein Wunder, tüfteln die zwanzig grössten Pharmakonzerne derzeit an 1400 Krebsmitteln, wie die Beratungsfirma Ernst & Young aufzeigt.
Forschungsprojekte werden durch Drittmittel finanziert
Paradoxerweise ist das Interesse am Markt für Kinderkrebsmedikamente auch deshalb gering, weil die Heilungschancen sehr gross sind. Denn heute behelfen sich die Mediziner mit sogenannten Off-Label-Arzneien: Das sind Medikamente, die für andere Erkrankungen entwickelt wurden – beispielsweise für Tumore bei Erwachsenen –, aber nie für den Einsatz gegen Kinderkrebsarten zugelassen wurden. Laut Roland Ammann vom Inselspital Bern haben sich zwar viele dieser Medikamente bewährt. Aber: «Im Gegensatz zu vielen Krebsarten bei Erwachsenen gibt es für Krebsarten bei Kindern nur sehr wenige – und damit klar zu wenige – moderne, neu entwickelte, gezielter wirkende Medikamente, die entsprechend auch weniger Nebenwirkungen haben.»
Das Desinteresse der Pharma führt dazu, dass Forschungsprojekte im Bereich Kinderkrebs mehrheitlich durch Drittmittel finanziert werden, etwa von Privaten, Firmen oder anderen Institutionen wie der Stiftung Kind und Krebs. Unterstützung erhält Letztere auch vom Sponsorenlauf www.gemeinsam-gegen-kinderkrebs.ch, der am kommenden Samstag erneut durchgeführt wird.
Mit den Spendengeldern beteiligt sich die Stiftung jährlich an bis zu drei Forschungsprojekten an Schweizer Universitäten und Kinderspitälern. Das Spendeneintreiben für die Forschung sei jedoch schwierig, sagt Franziska Derungs, Geschäftsführerin der Forschungsstiftung Kind und Krebs und der Vereinigung zur Unterstützung krebskranker Kinder. «Das Thema Forschung ist zu wenig emotional, und die Forschung wirkt auf viele als etwas Abstraktes», sagt sie. Um die laufenden Projekte finanzieren zu können, benötigt die Einrichtung jährlich über eine halbe Million Franken.
Erschienen in 2014